Unterwegs in der Alpenstadt.
Der Kunst-Kosmos Chur

Von Dario Brazerol

Chur. Oder Ur-Chur. Vielleicht auch nur CH. Oder doch Church? Wieder und wieder reihen sich die Buchstaben aneinander. Was das ist? Kunst. Wo es zu finden ist? In Chur natürlich. Die graue Betonfassade am Bahnhof scheint willkürlich mit den Lettern versehen worden zu sein. Und doch steckt der schöpferische Geist eines bekannten Bündner Künstlers dahinter: Christoph Rütimann. Wie bei Rütimann hat scheinbar Unscheinbares in Chur Bedeutung. Das scheint auch auf die Stadt selbst zuzutreffen. In verwinkelten Gassen aber auch an öffentlichen Plätzen offenbart die Stadt ihre grössten Schätze: Die Kunst in Chur.

Abstrakte Werke mit Gesprächsstoff
Also lassen wir uns auf der Suche nach den Kunstwerken in der Alpenstadt von einer Expertin von Chur Tourismus, Monica Andreoli, begleiten. Inmitten der Stadt, am hochfrequentierten Alexanderplatz, ragen drei weisse Gebilde ihre Köpfe monumental in die Höhe. «Das sind die Lotusblüten von Not Vital», erklärt Monica Andreoli. Lange und heiss wurde in der Stadt diskutiert, um was es sich bei diesen drei abstrakten Werken handeln könnte. Der allgemeine Konsens: Spermien. «Davon habe ich auch schon gehört», sagt die Stadtführerin – und beharrt: «Wenn man es sich aber genauer ansieht, kann man erkennen, dass die drei Gebilde an geschlossene Lotusblüten erinnern.»

Ähnlich abstrakt, aber viel weniger prominent platziert mutet das Werk des Baslers Michel Pfister an. Im Innenhof des Gebäudes, in dem das romanische Fernsehen und Radio produziert werden, hängt «Il transformatur». Geschmeidig, fast schon organisch, windet sich der Chromstahlkoloss in mehreren Metern Höhe durch den Innenhof stadtauswärts. Überrascht, ein solches Gebilde abseits der Menschenmassen fast schon privat begutachten zu können, versuche ich zu erkennen, um was es sich handelt. Ist es ein Trichter? Oder ein Wurm vielleicht? Nein, ein Sprachrohr! «Das ist gar nicht mal so falsch», sagt Monica Andreoli. «Die Skulptur soll auf die Kommunikation innerhalb des Gebäudes verweisen.»
Älteste Stadt der Schweiz trifft auf Moderne
Eiligen Schrittes führt uns Monica Andreoli raus aus dem Getümmel und hinein in die historische Poststrasse. Hier verschmelzen Moderne und Altertum. Pflastersteine am Boden und filigrane Verzierungen an den Mauern erinnern an längst vergangene Zeiten. Richtig, Chur gilt als die älteste Stadt der Schweiz. «Schon die Römer hatten hier ihre Siedlungen und die alte Stadtmauer wurde bis ins 13. Jahrhundert zurückdatiert», sagt die Stadtführerin. Erst kürzlich wurden bei Bauarbeiten am Anfang der Poststrasse wieder neue Teile der Mauer freigelegt.

Nur wenige Meter entfernt von der Fundstelle tänzelt ein Stelzenläufer in schwindelerregender Höhe. Der «Orbiter», wie er genannt wird, wirft einen skeptischen Blick auf das weit unter ihm liegende Treiben. Und die Leute schauen, wohl eher wegen der blendenden Sonne, mit ähnlich verkniffenem Blick zurück. Noch nicht lange steht das Werk von Robert Indermaur an diesem Platz. «Jetzt wacht der ‘Orbiter’ über den Postplatz», titelte die Zeitung «Südostschweiz» letzten Sommer. Und tatsächlich scheint die Figur mit Argusaugen einen jeden zu beobachten.

Was Martin Luther mit Chur zu tun hat
So scheint er uns auch mit seinem Blick zu folgen, als wir uns in die Tiefen der Altstadt begeben. Ein Stadtteil in dem die Vergangenheit spürbar wird. Monica Andreoli erklärt die Geschichte hinter den an Stickereien erinnernden Wandverzierungen und schwärmt von der barocken Inneneinrichtung des Bezirksgerichts. Am idyllischen Arcasplatz mit seinen farbenfrohen Häusern lässt sie uns eine Zeit verweilen, um den Anblick zu geniessen. Zeit, die sich ein Einheimischer wie ich selbst, leider viel zu selten nimmt. Erst jetzt wird mir die Schönheit dieses Ortes überhaupt bewusst. Hier scheint die Zeit einfach stehengeblieben zu sein. Schliesst man die Augen, so kann man fast hören, wie die Postkutschen über die Pflastersteine rollen und die Marktfrauen ihre Geschäfte aushandeln.
«Dass Chur eine lange Geschichte hat, zeigt sich auch daran, dass die Stadt in unserem täglichen Sprachgebrauch wiederzufinden ist», sagt Monica Andreoli. «Das Wort ‘Kauderwelsch’ soll Martin Luther für das ‘Welsch der Churer’, also das Churerdeutsch, genutzt haben.» Auch wenn Forscher sich bei der Herkunft des Wortes ‘Kauderwelsch’ nicht ganz einig sind: Für mich als Churer ist der Fall nun klar.

Kleine Hürden bis zum «grossen Weib»
«Nun will ich euch aber mein Lieblingswerk zeigen», sagt unser City-Guide und holt uns in die Gegenwart zurück. Ruhig gelegen und fast zu übersehen steht die Skulptur auf inmitten einer Grünfläche jenseits der Poststrasse. «Das müssen wir uns jetzt wirklich aus der Nähe ansehen», bestimmt unsere Stadtführerin und stockt, als sich ihr ein unerfreulicher Anblick bietet. «Nein! Was soll das denn?» In der kleinen Parkanlage werden gerade Grünarbeiten durchgeführt. Ein rotes Absperrband verwehrt uns den Zutritt. «Das ist jetzt egal, wir müssen näher heran», sagt sie und hüpft behände über das Band. In der Mitte des Parks steht sie: Das «grosse Weib», eine Steinskulptur, deren Form einer weiblichen Figur nachempfunden ist. Vorsichtig streicht Monica Andreoli über die steinige Haut der beleibten Dame. Ihre Augen glänzen als sie über die Symbolik der Mutter Erde spricht.

Am Ende der knapp zweistündigen Tour kommen wir an den Ort zurück, wo unsere Tour begonnen hat: Im Hintergrund rauschen Züge ein und aus. Die Passanten tauchen unter Christoph Rütimanns Chur oder Ur-Chur oder einfach nur CH auf und ab. Zum Abschied möchte Monica Andreoli uns noch eines auf den Weg mitgeben: «Denkt immer daran, ‘La vita è anche un’arte’.» Auch das Leben ist eine Kunst. Und in Chur lebt die Kunst.

Autor.
Dario Brazerol
Dario Brazerol studierte Journalismus und Organisationskommunikation an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Winterthur. Er arbeitet als Redakteur.