Wie man die Engadiner Kratztechnik erlernt.
Sgraffito-Kunst für Laien

Von Franco Furger
Wer im Engadin unterwegs ist, der bleibt früher oder später vor einem Haus stehen, weil es so schöne Verzierungen trägt. Verzierungen, die Fenster und Türen schmücken, Hausecken markieren oder Dachkanten unterstreichen. Beliebte Muster sind Dreiecksornamente, Rosetten und Wellenbänder. Manchmal stehen Weisheiten an einer Wand oder filigran gezeichnete Fantasiefiguren.

Sind es wirklich gezeichnete Figuren? Nein. Wer genau hinschaut, bemerkt, dass die Verzierungen aus Vertiefungen und Ritzungen im Putz bestehen. Sie sind nicht aufgemalt, sondern in mühevoller Handarbeit in die Wand gekratzt. Und so heisst diese traditionelle Dekorationskunst auch. Der Name Sgraffito leitet sich aus dem Italienischen Wort für kratzen, sgraffiare, ab.
Oft gesehen, wenig bemerkt
Ich bin im Engadin aufgewachsen und laufe praktisch jeden Tag an Sgraffito-Kunst vorbei. Doch wie es oft der Fall ist, hat man für das Naheliegende wenig Sinn. Zeit dies zu ändern. Ich rufe Josin Neuhäusler an und melde mich für einen Sgraffito-Kurs an.

«Jedes Sgraffito ist einzigartig und verändert sich je nach Sonneneinstrahlung. Das macht die Motive und Figuren wie lebendig», erklärt mir Josin in seinem Atelier in Susch. Lebendig ist auch der Charakter des Malermeisters, der mich mit Charme und Witz ins Sgraffito-Handwerk einführt. Seine Kurse besuchen Menschen von überall her: Gäste, Engadin-Fans, Schulklassen, Kinder, Erwachsene.
Kunst, die bestehen bleibt
Josin hat eine 30 x 30 cm grosse Styropor-Kachel, die mit dunklem Putz überzogen ist, schon vorbereitet. Nun zieht er eine weisse Schicht Kalkputz drüber. Etwa zweieinhalb Stunden lang bleibt die weisse Schicht weich. So lange habe ich Zeit, um mein Werk zu gestalten. Danach wird die grobkörnige Masse hart wie Stein. «Gute Sgraffiti überdauern Jahrhunderte an Hauswänden», erklärt Josin, «Man schafft etwas Dauerhaftes, das ist das Schöne an dieser Kunst.»

Italienische Renaissance-Baumeister brachten das Sgraffito im 16. Jahrhundert nach Graubünden, wo es vor allem im Engadin und den angrenzenden Tälern Verbreitung fand. Einheimische Handwerker kopierten die Motive und ergänzten sie zu einem eigenen Typus.
Viel Aberglaube an den Wänden
Das erklärt, warum häufig Delfine, Muscheln, Wasserköniginnen mit doppeltem Fischschwanz oder Drachen an Engadiner Häusern zu sehen sind. Die Motive haben meist eine abergläubische Bedeutung, sie symbolisieren das Leben, Glück, Schutz oder Fruchtbarkeit.

Josin hilft mir, mit einem Zirkel eine Wellenform in meine Kachel zu zeichnen. «Laufender Hund» heisst diese typische Figur und soll den Kreislauf des Lebens darstellen. Nun kann ich mit Hilfe eines Spachtels und 90er-Nagels den weissen Putz wegkratzen. Es braucht Geduld, bis eine Fläche sauber freigelegt ist und der darunterliegende graue Putz in voller Stärke zum Vorschein kommt. Die Kratzgeräusche haben etwas Meditatives und die simplen Werkzeuge etwas Archaisches – wahrscheinlich stossen Josins Kurse auch deshalb auf viel Interesse.

Bequem am Tisch zu sitzen und auf einer kleinen Fläche zu arbeiten ist eine Sache, auf dem Baugerüst zu stehen und an einer ganzen Wand zu arbeiten eine ganz andere. «Es ist eine hohe Kunst, die jahrzehntelange Erfahrung braucht», sagt Josin, der die Sgrafitto-Technik von seinem Vater erlernt hat. Mit seinen Kursen will er Leute begeistern, damit diese Tradition nicht verloren geht.
Es gibt auch moderne Kratzkunst
Bekannte Engadiner Sgrffito-Künstler waren zum Breispiel Steivan Liun Könz, Sohn der Schellen-Ursli-Autorin Selina Chönz, oder der Bildhauer Giuliano Pedretti, der das Sgraffito auch modern interpretierte und weiterentwickelte.

Ein Sgrafitto zum Mitnehmen
Meine Kachel ist dank tatkräftiger Hilfe von Josin sehr schön geworden. Und ich darf sie sogar mit nach Hause nehmen. «Das ist doch viel besser, als bloss ein Foto zu machen, nicht wahr», meint er zum Abschied.
Als ich am nächsten Tag durch meinen Wohnort Celerina laufe, betrachte ich die Häuser mit einem ganz anderen Blick. Nun fallen mir die verschiedensten Sgraffito-Motive auf und ich kann mir ein wenig vorstellen, wie viel Geduldsarbeit und Kunstfertigkeit sich darin verbergen.


Autor.
Franco Furger
Franco Furger ist in Pontresina aufgewachsen. Als Profi-Snowboarder tourte er um die Welt. Später liess er sich zum Journalisten und Texter ausbilden. Zurzeit arbeitet er als freischaffender Texter.