Unterwegs im Unterengadin.
Der Eis- und Schlossmeister

Von Martin Hoch
Mario Riatsch öffnet das Küchenfenster, schaut raus. Ein kalter, bissiger Luftzug zieht rein. Er zeigt nach unten und fragt: «Könnt ihr die Rehe da unten sehen?» Die Besucher schauen gespannt vom hoch über dem Inntal thronenden Schloss Tarasp hinunter und erblicken die Rehe. Riatsch fügt an: «Diese Rehe sind täglich hier, sie sind frei, gehören aber zum Schlossgarten.»

Das Schloss Tarasp liegt auf der gegenüberliegenden Talseite der Sonnenterrasse Ftan, nahe Scuol. Es steht erhaben auf einem hoch aufragenden Felsen, umgeben von der mächtigen Bergwelt des Unterengadins. Riatsch verwaltet das Schloss und führt Besucher regelmässig durch die Gemäuer. Er bietet nebst Schlossführungen auch Käse- und Trockenfleischdegustationen mit Fleisch vom Edelmetzger Hatecke aus Scuol an. Mario Riatsch, Familienvater und fest in der Region verankert, war einst Förster. Inzwischen ist er Schloss- und Eismeister; er verdankt diese eher ungewöhnliche Karriere seinem wachen Geist, der auch mal um die Ecken denkt. Und das kam so.
Vom Förster zum Eismeister
Es war ein winterlicher, kalter Tag. Mario Riatsch ging durch sein Forstrevier in Sur En, zehn Fahrminuten östlich von Scuol gelegen. Am Vortag regnete es bis ins Tal hinunter. Die Waldwege vereisten über Nacht. Da ratterte es in Riatschs Kopf. Er zählte eins und eins zusammen. Dieser Weg, da war er sich sicher, wäre ideal für einen Eisweg, einen solchen, wie er ihn mal im Albulatal zu Gesicht bekam. Zusammen mit Wolfgang Bosshardt vom nebenan gelegenen Campingplatz und Grant Fletcher, zusammen betreiben sie im Sommer auch den Seilpark hier im Wald, setzte er die Idee vor sieben Jahren um.

Der drei Kilometer lange Schlittschuhweg zieht sich wie eine Schleife durch den zauberhaften Nadelwald. Der Weg ist für Anfänger genauso geeignet wie für sportive Eisschuhläufer. Meist verläuft der Eisweg ebenerdig, dazwischen gehts jedoch auch mal leicht den Hang hinunter und die Fahrt wird etwas rasanter. Gleichzeitig bezirzt der Wald mit Ruhe und lässt hie und da funkelnde Sonnenstrahlen durchs Geäst.

Für die einen steht das Naturerlebnis im Vordergrund, für die anderen ist die Fahrt eine riesen Gaudi. Speziell Kindern dürfte ein solcher Waldspaziergang bestimmt mehr Spass bereiten, als zu Fuss unterwegs zu sein. Praktisch ist, dass gleich vor Ort Schlittschuhe vermietet werden, somit auch ein spontaner Besuch möglich ist.
Der Eismeister wird Schlossmeister
Die Meldung schlug vor sechs Jahren ein und verbreitete sich innert kürzester Zeit im Schweizer Blätterwald: Not Vital, der international bekannte Künstler aus Sent, hat das Schloss Tarasp erworben. Jahrelang wusste keiner, was mit dem Schloss geschehen soll – die Besitzerfamilie aus dem deutschen Adel wollte das im Jahre 1040 von Ulrich von Tarasp erbaute Schloss loswerden. Man atmete auf im Unterengadin. Der Fixstern des Inntals fand einen neuen Käufer. Und noch besser: einen Hiesigen. Doch wer hinter diesem Coup stand, wussten die wenigsten. Es war Mario Riatsch. Einmal mehr kombinierte er, zählte eins und eins zusammen.
Nach einer Sitzung im Gemeindehaus in Tarasp stand Riatsch zusammen mit dem Gemeindepräsidenten und einem lokalen Bauern draussen, sie atmeten die frische Engadiner Bergluft ein und redeten über dies und jenes. Der Blick fiel aufs Schloss, das aktuelle Sorgenkind im Dorf. Einer in der Runde dachte laut: «Und was machen wir mit dem Schloss?» Bei Riatsch machte es «Klick», er schlug vor: «Lasst mich mal meinen Onkel fragen.» Vielleicht habe dieser Interesse das Schloss zu übernehmen. So sprach Riatsch seinen Onkel Not Vital darauf an. Das Eine führte zum Nächsten. Not Vital kaufte das Schloss und öffnet es regelmässig Besuchern – sie sollen an seiner Freude am Schloss Anteil haben. «Mein Onkel ist wahnsinnig glücklich mit dem Schloss», sagt Riatsch und es ist ihm anzusehen, dass auch er ziemlich viel Freude daran hat.

Tatsächlich ist das Schloss ein Juwel: Eine Burg mit grossen geschichtsträchtigen Sälen, kleinen schmucken Bädern, Schlafgemächern von Adligen – vor einem der Betten liegt ausgestreckt ein Bärenfall samt Kopf – und voller ziervoller Möbel. Ein Rundgang ist eine Entdeckungstour, es lohnt sich auf die unzähligen Details zu achten. Spannend sind auch die von Not Vital ausgestellten Kunstgegenstände. Dazu gehören einige seiner eigenen Werke, aber auch die weiterer Künstler. Und in einem der Säle befindet sich Europas grösste in Privatbesitz befindende Orgel. «Es ist das Herzstück des Schlosses», sagt Riatsch und fügt an: «Es ist eine Freude hier zu arbeiten.» Und nein, gespuckt habe es im Schloss bis anhin noch nicht.



Autor.
Martin Hoch
Martin Hoch war über sieben Jahre auf Reisen. Ob mit der Bahn, Bus, Segelschiff oder umgebautem Bus, wichtig waren ihm die Begegnungen mit Menschen, angetrieben hat ihn die Liebe zur Natur. Zurück in der Schweiz widmet er sich dem Reisejournalismus, bereist noch immer regelmässig die Ferne und ist genauso fasziniert von der Schweizer Bergwelt.