Eine Zeitreise in die Vergangenheit.
Grossvater kocht

Von Martin Hoch
Julian Cathomas hält ein Bündel Flachsstengel in seiner linken Hand. Mit der rechten drischt der Bauernsohn mit einer antiken Breche auf diese ein. Damit bricht er den holzigen Kern des Flachs, sogenannte Schäben fliegen zu Boden und Cathomas gelangt auf diese Weise an dessen wertvolle Fasern. Er zeigt seinen Besuchern, wie Schweizer Bergbauern einst den Flachs bearbeiteten, um daraus Garn für die Weiterverarbeitung herzustellen.
Julian Cathomas trägt ein blaukariertes Hemd, einen wilden Bart, Edelweiss-Hosenträger und eine rote Kochschürze. Er schaut genauso aus, wie man sich einen Älpler vorstellt. Er führt die Tegia Rasuz, das «lebendige Museum» in Breil/Brigels, zeigt, wie seine Vorfahren hier in den Bergdörfern der Surselva einst lebten, und vermittelt ein wichtiges Stück Schweizer Kulturgeschichte. Er sagt, er mache dies aus Freude und: «aus der Überzeugung, dass es wertvoll ist, unsere Tradition einer jüngeren Generation weiterzuvermitteln», bevor diese verloren ginge.

Gemütlich und gesellig im Maiensäss
Das Skigebiet von Breils/Brigels liegt mitten in der Surselva an sonnenausgerichteten Hängen. Speziell Familien schätzen das überschaubare Gebiet, dass fernab von Massentourismus auf 26 Pistenkilometern Skierlebnisse ohne Schlangestehen, bietet. Hier ist Skifahren Erholung. Und sehnt man sich abends nach Wärme und einem feinen Abendessen, gibt es im Dorf einen Geheimtipp: die Tegia Rasuz.
Das Maiensäss aus dem 18. Jahrhundert, diente den Bergbewohnern einst als Zwischenstation zur Alp. Julian Cathomas, selber im Alpleben verwurzelt – er war bis im letzten Herbst Alpmeister und besitzt noch immer sechzig Schafe und Lämmer –, siedelte das baufällige Maiensäss zusammen mit seinem Cousin Maurus Cathomas um und holte es mitten ins Dorf von Breil/Brigels. Hier bauten sie es wieder auf und zu einem kleinen Bijou aus.

Die Gäste werden von «Grossvater» Cathomas in die kleine, urige Stube geführt. Der wenige Quadratmeter kleine Raum mit tiefer Decke war einst Wohn-, Ess- und Schlafzimmer in einem. Und fühlt sich richtig heimelig an. Er vermittelt Geborgenheit. Die Dekoration und Ausstattung stammt aus vergangenen Jahrhunderten. Bilder aus früheren Zeiten, Kleider von Sennen, Stabellenstühle, antikes Geschirr von der Alp und auf einer Ablage stehen holzgeschnitzte Dekokühe und mehrere Bibeln. Julian Cathomas zeigt einen dreibeinigen Stuhl, sagt: «Dieser Stuhl stammt aus dem Jahre 1520.» Der Bergler ist ein leidenschaftlicher Sammler, wie die Besucher an diesem Abend noch feststellen werden.
Während diese am Holztisch Platz nehmen, steht Cathomas am Kochherd. Und auch hier setzt er auf Altbewährtes, kocht über einem Holzfeuer.

Seinen Gästen tischt er je nach Anfrage verschiedenste Gerichte aus der einfachen, schmackhaften alpinen Küche auf. Das Kochen habe er sich selber beigebracht, sagt er nicht ohne Stolz. Und es schmeckt göttlich, auch wenn es den einen oder anderen Gast anfangs noch etwas komisch dünkt, dass alle aus derselben Pfanne essen. Doch nicht ohne Regeln: Cathomas sagt mit Nachdruck, dass jeder nur aus seiner Ecke der Pfanne löffeln darf und: «Das ist eben kein Hotel-, sondern Hüttenleben.» Schnell wird es gesellig und Cathomas erzählt die eine oder andere Anekdote aus dem Bergleben.

Ein lebendiges Museum
Nach dem ersten Gang bittet Julian Cathomas seine Gäste, die gemütliche Stube zu verlassen, sagt: «Nun zeige ich euch mein lebendiges Museum.» In einem Stall neben dem Maiensäss stehen und liegen dutzende Arbeitsgeräte aus dem früheren Alpleben. Cathomas begann, diese bereits als Zwanzigjähriger zu sammeln. Sein Fundus ist riesig: Von antiken Babybadewannen über jahrhundertealte Mäusefallen, Bügeleisen oder Heugabeln bis hin zu einem alten Pflug. Letzterer sei bereits seit längerer Zeit nicht mehr in Gebrauch und er ergänzt: «In anderen Ländern werden solche aber noch heute eingesetzt.»

Zu jedem Gegenstand gehört eine Geschichte. Er erklärt, wie die Werkzeuge eingesetzt wurden und nimmt sich für alle Fragen Zeit. Die Gäste lauschen gebannt, sind vom Leben und der harten Arbeit früherer Generationen fasziniert. Schliesslich geht‘s wieder zurück in die warme Stube, weitere Gänge werden verspiesen, es wird viel geredet, gelacht. Dazwischen erklärt Cathomas immer mal wieder einen Gegenstand aus dem Alltag der früheren Bergbewohner – mitunter den Tischpfannenknecht oder die höhenverstellbaren Kerzenlampen – und auf einmal überkommt einen das Gefühl, sich in einem anderen Jahrhundert zu befinden. Das Breil/Brigels von 2018 ist weit weg in der Zukunft. Es ist als sitze man in einer Zeitkapsel. Und je später der Abend wird, desto mehr zeigt sich der feine Humor des anfangs wortkargen Berglers. Zum Schluss tischt er den Damen einen Frauenschnaps und den Herren einen Männerschnaps auf. Wieso er diese so nennt? Das erfährt nur, wer bei «Grossvater» Julian Cathomas einkehrt.

Autor.
Martin Hoch
Martin Hoch war über sieben Jahre auf Reisen. Ob mit der Bahn, Bus, Segelschiff oder umgebautem Bus, wichtig waren ihm die Begegnungen mit Menschen, angetrieben hat ihn die Liebe zur Natur. Zurück in der Schweiz widmet er sich dem Reisejournalismus, bereist noch immer regelmässig die Ferne und ist genauso fasziniert von der Schweizer Bergwelt.