Ausgerechnet Tschiertschen.

Der Schönheit eines Dorfs auf der Spur

Guarda? Soglio? Bergün? Nein. Tschiertschen ist das Bergdorf in Graubünden, das sich das schönste nennen darf, ganz offiziell. Auf den ersten Blick erstaunt die Wahl. Doch wer das Schanfigger Dorf und die Menschen in den sonnengegerbten Holzhäusern näher kennenlernt, findet sich plötzlich in einer unerwarteten Liebesgeschichte wieder.

Von Jano Felice Parajolo

Ein regnerischer Sonntag im Februar. Nicht der Winter, wie man ihn sich wünschen würde, noch nicht. Zuerst, am Dorfeingang: der Parkplatz, trotz des Wetters gut besetzt, aber wenig einladenden Charme versprühend, ich muss es zugeben. Was ich auch gestehen muss: Ich kenne Tschiertschen nicht, noch nicht. Dabei lebe ich nur eine halbe Stunde Autofahrt entfernt. Meine Wege haben mich nie in dieses Bergdorf geführt. Ja, das ist blamabel. Aber nun, immerhin, ändere ich es, und das mit einer ganz bestimmten Mission. Ich will herausfinden, was Tschiertschen ausmacht, besonders macht, so aussergewöhnlich, dass es die Wahl zum schönsten Bündner Bergdorf für sich entschieden hat. Eindeutig, kein Zufallsresultat, ein solider Sieg. 2726 Stimmen, 688 Stimmen mehr als der zweitplatzierte Ort. Wer kann mir Antworten geben? Tschiertschen selbst. Und, zum Beispiel: Roderick, Mia, Thuri, Stéphane, Armin, Sabin und Georg.

Roderick Galantay, Gemeindepräsident von Tschiertschen-Praden (Foto: © Jano Felice Pajarola)
Wegweiser Enderdorf in Tschiertschen (Foto: © Jano Felice Pajarola)

Er wartet schon vor dem kleinen Tourismusbüro auf mich, Roderick Galantay, Architekt, seit zwei Jahren Gemeindepräsident, eine rasche politische Karriere für einen, der erst vor sieben Jahren zugezogen ist. Die Eltern waren Ungarnflüchtlinge, er ist in den USA geboren, war später in Liestal zu Hause, dann kam er mit seiner Frau als eine Art «Aussteiger» nach Arosa. Auf einer Skitour durchs Urdental entdeckte er Tschiertschen. Ein coup de foudre. Und jetzt, erzählt er mir, fühle er sich sehr daheim hier, «zum ersten Mal in meinem Leben fühle ich mich so zu Hause». Das habe viel mit den Menschen im Dorf zu tun, «wir sind uns ähnlich. Und sie sind offen und neugierig.»

Tschiertschen ist nicht gepflegt wie ein Museum, es ist gelebt.

Roderick Galantay

Aber es hat auch mit dem Ort an sich zu tun, «Tschiertschen ist nicht gepflegt wie ein Museum, es ist gelebt», meint Roderick, er zeigt die Häuser, die über Jahrhunderte weitergebaut wurden, auch mal – unter anderem dank ihm – moderne Elemente erhalten haben, alt und neu im Idealfall entspannt vereinen. Dorfverschönerung? Das Ortsbild erhalten, ja, das sei für ihn als Architekt wichtig, «aber praktikabel muss es auch sein». Ein bisschen, Roderick schmunzelt, sei Tschiertschen in der Zeit stehen geblieben. «Weil es kein Durchgangsort ist und nie an den Massenverkehr angeschlossen wurde.»

Mia Engi (Foto: © Jano Felice Pajarola)
Geburtstafeln in Tschiertschen (Foto: © Jano Felice Pajarola)

Ja, Tschiertschen liegt am Ende. Hier führt keine Strasse mehr weiter. «Wenn du da bist, bist du da, fertig», sagt Mia Engi, meine nächste Gesprächspartnerin. Am Ende ist das Dorf trotzdem nicht. Dank starken Geburtenjahrgängen kann die Schule ab 2021 zwei zusätzliche Klassen führen, hat Roderick mir erzählt. Und die sechs Bauernbetriebe in der Gemeinde Tschiertschen-Praden haben alle den Generationenwechsel bereits hinter sich, junge landwirtende Kräfte sind am Werk, ihre Familien beleben den Ort. «Es räblet vor lauter Kindern», meint die 70-jährige Mia in ihrer Stube unweit des alteingesessenen Bazars Brüesch und des Prima-Dorfladens. Tatsächlich, auch so etwas gibt es in Tschiertschen noch, man kann hier einkaufen, was man für den Alltag braucht. Und muss es mal mehr sein, ist die Hauptstadt nah.

Die Nähe zu Chur wird garantieren, dass Tschiertschen eine Zukunft hat.

Mia Engi

«Tschiertschen», meint Mia, «ist ein totales Bergdorf. Aber es liegt nur eine Viertelstunde von Chur weg. Das wird garantieren, dass Tschiertschen eine Zukunft hat.» Die frühere Skiakrobatin hat die halbe Welt gesehen, nach dem Aufwachsen im Dorf – «dazu war es der traumhafteste Ort, du hattest alle Freiheiten» – zog es sie in die Fremde, denn wo keine Strasse mehr weiter führt, entwickelt sich auch das Fernweh. Später, als ihre Mutter älter wurde, kam sie zurück, wurde so sesshaft, «wie ich es als junge Frau nie sein wollte». Doch auch diese Phase ist inzwischen wieder vorbei, den vergangenen Sommer hat Mia mit ihrer Schwester in Kanada verbracht, den 70. Geburtstag, ich staune, auf den Malediven gefeiert. «Heute», sie lacht, «lebe ich wieder so, wie die Tschiertschner mich früher gekannt haben.» Ja, sie sei oft fort gewesen. «Aber mein Nest war immer hier.»

Arthur Heldstab (Foto: © Jano Felice Pajarola)

Mia, die Unkonventionelle, ist übrigens ein grosser Fan des wiederentdeckten Hanfanbaus für Lebensmittel. Ich habe im Internet davon gelesen. Sie, die einstige Freestyle-Pionierin, unterstützt dabei einen anderen Tschiertschner Pionier: Adrian Hirt. Ein kurzer Weg durch den Regen bringt mich in sein Lädali, ein Provisorium, seit das frühere Alpenhirt-Geschäft einem Brand zum Opfer gefallen ist. Adrian ist an diesem Sonntag nicht in Tschiertschen, er ist gerade Vater geworden, aber Thuri ist da, Arthur Heldstab, er schaut zum Lädali, wenn es wochenends geöffnet ist. Thuri, ein Davoser, der in Chur wohnt und in Tschiertschen bei Adrian – «der hat einen unverschämten Drive» – mithilft, ist ein begnadeter Verkäufer und Erzähler, er kennt jede Anekdote, die zu Adrians Trockenwürsten passt, philosophiert über Gott und die Welt und scharfe Messer, wenn er die Salsize zum Probieren aufschneidet, verfeinert mit Kartoffeln, mit Chili, mit Safran, ganz neu.

Tschiertschen ist meine zweite Heimat.

Arthur Heldstab

Thuri, will ich wissen, was ist Tschiertschen für dich? Er muss nicht lange überlegen. «Ein tolles Dorf.» 212 Einwohner, weiss er. 1350 Meter über Meer. Und Besucher, die auch mal aus Australien, Südafrika, Grossbritannien, den USA kommen können, bis zu ihm ins Lädali. «Ich kann hier jeden Tag etwas lernen.» Ja, Tschiertschen sei ihm zur zweiten Heimat geworden.

Das Haus «Aux Losanges» in Tschiertschen (Foto: © Jano Felice Pajarola)

Eine zweite Heimat ist das Dorf auch für Armin Zink und Stéphane Lombardi. Ihnen gehört das Haus «Aux Losanges», das einstige Café «Engi», nun französisch getauft, weil Stéphane ein Romand ist. Und «Losanges», das sind die Rhomben, mit denen das Londoner Architekturbüro Caruso St. John einen der Räume im Haus ausgeschmückt hat, den zweiraumhohen Saal, den die beiden Besitzer regelmässig für Kulturanlässe öffnen. Armin kennt Tschiertschen seit den Skiferien in der Kindheit. Und immer am letzten Abend habe es ein Glacé im «Engi» gegeben, schreibt er mir aus Zürich, wo er und Stéphane leben.

Das Haus zu öffnen, ist sehr gut angekommen.

Stéphane Lombardi

Als das Haus vor gut vier Jahren zum Verkauf stand, griffen die beiden zu. Und engagierten Caruso St. John für einen Umbau, der für Furore sorgte. Zur Eröffnung 2017 kamen 200 Gäste, die Hälfte davon Einheimische. «Das Haus von Anfang an vor allem auch der hiesigen Bevölkerung zu öffnen, ist sehr gut angekommen.» Berührungsängste gebe es immer noch, «aber wir sind bemüht, uns auch anderweitig im Dorf einzusetzen». Stéphane sitzt im Verwaltungsrat der Bergbahnen Tschiertschen, beide machen sie im Dorfladen-Verein mit. Zweitheimische, wie man sie sich nur wünschen kann.

Sabin Bieri (Foto: © Jano Felice Pajarola)
Die Kinder von Sabin Bieri (Foto: © Jano Felice Pajarola)

Das «Aux Losanges» lockt als Ferienhaus regelmässig Gäste aus dem Freundes- und Bekanntenkreis von Armin und Stéphane nach Tschiertschen. Jetzt gerade die Bernerin Sabin Bieri mit ihrer Familie, sie ist spontan zu einem Treffen im Haus mit den Rhomben bereit, lädt ein an den Tisch, an dem sie gerade mit Freunden sitzt, die ebenfalls im Dorf logieren. Die Kinder spielen gemeinsam Karten im Zimmer nebenan, die Stimmung ist gelöst, ich fühle mich gleich willkommen, wie eigentlich überall an diesem Sonntag in Tschiertschen.

Man findet hier alles, was man braucht.

Sabin Bieri

«Der Ort bietet all das, was man sich wünscht, wenn man mit Kindern in die Ferien will», findet Sabin. «Es hat keinen Retortencharakter, ist übersichtlich, auch im Skigebiet, man ist in zwei Minuten am Lift. Und man findet hier alles, was man braucht.» Für den Nachwuchs sogar einen Erlebnisstall auf dem Güdahof, für die Eltern gutes Essen und das Spa im weit herum bekannten 4-Sterne-Haus «Alpina» ganz oben im Dorf. «Man hat die Auswahl, aber sie ist nicht absurd gross. Und Tschiertschen ist nicht übereventisiert. Es ist extrem entspannt hier.» Sabin und ihre Familie sind nicht zum ersten Mal in Tschiertschen, seit sie 2017 über Armin das «Aux Losanges» entdeckt haben. «Und wir haben ihm schon gesagt», Sabin lacht, «so bis etwa 2050 wollen wir dann schon hierher kommen.»

Georg Jäger (Foto: © Jano Felice Pajarola)
Hausspruch in Tschiertschen (Foto: © Jano Felice Pajarola)

Ich gehe wieder hinaus in den Nieselregen, zurück zur Kirche, wo einer wartet, der Tschiertschen wie seine Westentasche kennt, Georg Jäger, Mitglied des Vereins Pro Tschiertschen-Praden, Historiker und Dorfführer, Jahrgang 1943. Wenn er an den vielen erhaltenen Ställen im Ort vorbeikommt, kann er noch davon erzählen, wie er als Kind die Spalten zwischen den Rundbalken mit Moos abdichtete, «das funktioniert bestens», erklärt er mir. Die historischen Holzhäuser von Zimmermeister Johannes Niggli, oft kunstvoll verziert mit Haussprüchen, und die – vielfach leider funktionslos gewordenen – Ställe, sie machen für ihn den ästhetischen Wert der Siedlung aus. Und der Umstand, dass die Zweitwohnungszersiedelung weniger dominant geblieben ist als andernorts. Tschiertschen, erklärt mir Georg, ist eigentlich längst kein eigentliches Bauerndorf mehr, der Tourismus hat hier früh angefangen, um 1880, wenn auch bescheiden und mit einheimischen Investoren. So sind die typischen Tschiertschner Pensionen entstanden, einst ein wichtiges wirtschaftliches Standbein für so manche Familie im Ort.

Es ist der Reiz des Unscheinbaren, der hier wirkt.

Georg Jäger

Wir steigen durchs Dorf hinauf zum Hotel «Alpina», wärmen uns an der schicken Bar mit einem Kaffee auf. Hier war, anders als einst bei den Pensionen, ein ausländischer Investor am Werk, und «man hat denkmalpflegerisch mit Verstand renoviert», stellt Georg fest. «Vor einem Vierteljahrhundert hatte Tschiertschen noch das Label, rückständig zu sein. Projekte wie das ‘Alpina’ und das ‘Aux Losanges’ haben das geändert.» Sie sind das Spektakuläre im sonst so Zurückhaltenden. Georg, frage ich, was ist denn nun das Geheimnis von Tschiertschen? «Es ist der Reiz des Unscheinbaren, der hier wirkt. Es gibt keine Kunstdenkmäler oder geschützte Bauten. Aber es ist eine Lebendigkeit im Dorf. Und auch das macht seine Schönheit aus.»

Ich verabschiede mich, gehe hinaus in den Regen. Aber er ist nebensächlich. Hier lässt es sich sein, denke ich, ob Regen oder Sonne. In diesen Ort kann man sich verlieben, weil er lebt und keine falsche Fassade aufsetzt. Er ist ehrlich, und er ist schön. Ich gebe zu, ich habe bei der Wahl des schönsten Bündner Dorfes nicht für Tschiertschen gestimmt. Hätte ich nach diesem Sonntag nochmals die Gelegenheit, ich würde anders entscheiden.

Bergdorf Tschiertschen (Foto: © Jano Felice Pajarola)
Jano Felice Pajarola

Autor.

Jano Felice Pajarola

Jano Felice Pajarola ist Redaktor, er lebt mit seiner Familie in Cazis GR.