Der Wald lehrt uns Entschleunigung.
Natur-Erlebnisse im Parco Val Calanca

Text – Martin Hoch / Bild – Nico Schaerer
Tag 1
Von Grono nach Braggio
Die Wanderung beginnt in Grono und führt zu Beginn hoch nach Santa Maria i. C., das seit Jahrhunderten über dem Tal thront und dessen Kirche bereits 1219 schriftlich erwähnt wurde. Auch die Römer waren einst hier unterwegs, davon zeugt der Kastanienhain Mola bei Castaneda. Guscetti erklärt: «Die Römer verbreiteten die Kastanie in ganz Europa», die Pflanze füllte mit ihren Nussfrüchten hungrige Mäuler und hatte als «Brotbaum» für die hiesige Bergbevölkerung einen hohen Stellenwert bei der Ernährung.
Nach einer Stärkung im Ristorante Bellavista geht’s weiter durch Nadelwälder zur Hochebene Pian di Scignan, wo sich das gleichnamige geschützte Hochmoor befindet. Ein wunderbarer Ort, um sich auf einer der dortigen Sitzbänke eine Ruhepause zu gönnen. Weniger als zweihundert Höhenmeter weiter oben ist schliesslich der höchste Punkt der Tagesetappe erreicht: Bei der aus Stein erbauten Kapelle Sant’Antoni de Bolada überblickt man das Calancatal bis weit nach hinten.


Es folgt der Abstieg nach Braggio, der Sonnenterrasse des Calancatals. Am Rande des Dorfs, umgeben von Wald, kultivieren Roland Wiederkehr und Katrin Stoll ein kleines Paradies, ihre Azienda Refontana, auf der sie Berglandwirtschaft betreiben. Vor dem Hof befindet sich ein riesiger Kräuter-, Beeren- und Blumengarten, aus dessen Pflanzen Katrin Stoll Tees, Tinkturen, Salben, Öle, Sirups und Konfitüren herstellt. Am gegenüberliegenden Rand des Dorfes mit seinen rund 50 Einwohnern ist das Tagesziel erreicht. Zu Tische im Agriturismo Raìsc wird man von der Bergbauernfamilie, von Agnese, Daniela und Aurelia, kulinarisch verwöhnt und fällt schliesslich müde und glücklich ins Bett.
Tag 2
Über Landarenca nach Rossa
Von Braggio bringt eine Gondel Wandernde runter nach Arvigo. Speziell ist, dass man die Gondel selbst bedient. Und ist sie nach dem Drücken des Start-Knopfes in Fahrt, bietet sich einem ein wunderbarer Ausblick auf die Nadelwälder der gegenüberliegenden Talseite. «Wahrscheinlich war das Calancatal einst komplett von Wald überzogen», sagt Förster Orio Guscetti, doch die hiesige Geschichtsschreibung sei löchrig, viele Informationen seien mangelhaft dokumentiert oder weitergegeben worden. Sicher ist, dass die Geschichte des Waldes in der Schweiz eine Geschichte des Wandels ist. Siedelten sich nach der letzten Eiszeit erst Birken und Föhren an, folgten später Laubmisch-, Eichen-, Buchen- und Nadelwälder. Gewandelt hat sich über die Jahrhunderte auch die Nutzung. Erst gewann der Mensch durch Waldrodung Siedlungs- und Ackerland, später lieferte der Wald Bau- und Brennholz. «Erst die Forstgesetze von 1876 und 1902 sorgten in der Schweiz für eine nachhaltigere Waldpolitik», sagt Guscetti. Eine solche sei nötig gewesen, da Holz damals und bis zu Beginn der 1980er-Jahre von hohem Wert war. Damit wurde viel Geld verdient, auch im Calancatal. «Norditalien benötigte Bauholz, in der Region entstand eine Industrie mit Sägereien und Holzhändlern und das Calancatal lieferte den Rohstoff.» So wurde die erste Strasse ins Tal von Holzhändlern finanziert.


Nach dem Einbruch des Holzpreises vor rund vierzig Jahren sei der wirtschaftliche Aspekt des Waldes aber zunehmend in den Hintergrund gerückt. Orio Guscetti, der diesen Wandel beruflich von Anfang an miterlebte, sagt: «Für Waldbesitzer stehen heute gezielte Massnahmen zur Pflege des Waldes und zur Erhaltung seiner wichtigen Schutzfunktionen im Vordergrund.» Laubbäume schützen die Ufer der Calancasca vor Erosion, Kastanienbäume schützen bei Steinschlag, und Fichten und Lärchen halten Lawinen davon ab, ins Tal zu donnern. Und es gibt noch eine Funktion, die der Wald hervorragend verrichtet, nennen wir sie die Genussfunktion. Wer sich dieser nähern möchte, tut dies nach einem Wegstück entlang der Calancasca mit einer weiteren Gondelfahrt, von Selma hoch nach Landarenca. Oben heissen einen Valentino Borgonovo und Noemi Negretti in ihrer Osteria Landarenca willkommen. Sie bereiten Gästen Risottos mit bis zu vierzehn verschiedenen Pilzen, die sie selber in den umliegenden Wäldern finden, zu. Noemi Negretti fügt an, dass der Wald auch Herausforderungen bringe: «Jedes Jahr entfernen wir Jungholz, um den Wald vom Dorf fernzuhalten.» Eine Arbeit, die sie für die Dorfbevölkerung leisten.


Nach genussvoller Einkehr geht’s über die Maiensässsiedlungen Lego und Cavaionc – hier lohnt sich ein Abstecher zum ausgeschilderten Wasserfall – zurück ins Tal nach Bodio-Cauco, wo die Pfadfinderinnenstiftung seit 1957 mit Bildungs- und Tourismusangeboten wirkt. Weiter flussaufwärts taucht man bei Pian di Alne in einen lichten Auenwald ein und trifft nach Sta. Domenica auf ein hölzernes Kunstwerk, genannt «Clesscupira». Es handelt sich um eine von acht Holzskulpturen des Architekten Davide Macullo, die zwischen Sta. Domenica und Rossa für Inspiration sorgen. Und während Wandernde in Rossa an ihrem Ziel angekommen sind, weiss Guscetti nicht, ob er sein berufliches Ziel gänzlich erreicht hat: «Ob meine umgesetzten Massnahmen für die Wälder des Calancatals die richtigen waren, wird man erst in kommenden Generationen erkennen.» Die Wälder hätten nun mal ihre eigene Zeitrechnung und, «hier oben in den Bergen geht alles nochmals langsamer vonstatten.»
Auf einen Blick: In den Wald eintauchen
Fichtenwälder an Steilhängen, Laubbäume im Tal und Kastanienhaine rund um die Dörfer: Unterhalb der Baumgrenze im Calancatal bestimmte früher und prägt bis heute der Wald das Leben der Einwohnerinnen und Einwohner – einst wirtschaftlich, in der Gegenwart durch seine Schutzfunktion.
- 8 % der Fläche des Calancatals unterhalb der Baumgrenze dient der Landwirtschaft.
- 85 % des Waldes im Calancatal dient dem Schutz vor Naturgefahren.
- 1 % der Fläche des Calancatals unterhalb der Baumgrenze ist von Menschen besiedelt.
- 91 % der Fläche des Calancatals unterhalb der Baumgrenze nehmen die Wälder ein.
- 52 Naturwaldreservate zählt der Kanton Graubünden. In diesen findet keine forstliche oder landwirtschaft-liche Nutzung statt.
- 1.1 Hektar Wald pro Person befinden sich auf dem Kantonsgebiet Graubündens (Ø CH: 0.15 Hektar pro Person).

Autor.
Martin Hoch
Martin Hoch war über sieben Jahre auf Reisen. Begegnungen mit Menschen und seine Liebe zur Natur prägten ihn. Zurück in der Schweiz arbeitet er als Reisejournalist, unter anderem für «Transhelvetica».